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Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11
Lesefaden

Hallo Leute,

da wir in der letzten Zeit intern ein paar Bücher gemeinsam gelesen und diskutiert haben, dachten wir, das nun in einem öffentlichen Faden zu machen. Vielleicht besteht ja Interesse bei dem einen oder anderen, sich an der Diskussion zu beteiligen.

Wir sind offen für alles und freuen uns auch über Vorschläge für die Lektüre. Beginnen wollen wir mit einem Roman von Juli Zeh, "Nullzeit". Es ist ein Roman um Beziehungen, das Tauchen und ein überraschendes Ende. Ich habe den Roman bereits gelesen, die anderen beginnen gerade mit der Lektüre. Jeder, der möchte, kann sich hier zu dem Roman äußern.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo Jan,

danke für das Erstellen des Fadens.

Darf ich noch einen Nachtrag zum vorigen Buch hier einstellen? Ich habe gerade in der Mediathek des ZDF die Doku "Das Geheimnis der Parralleluniversen" (ja, mit rr geschrieben) entdeckt. Dürfte nur noch heute und morgen zu sehen sein, vielleicht ist es ein bisschen erklärend zur Sache mit der Viele-Welten-Theorie.

http://www.zdf.de/ZDFmediathek#/beitrag/video/2350678/Das-Geheimnis-der-...

donquichote

Bild des Benutzers Gika
Verbunden: 26. März 2004 - 0:00

Hallo Ihr Beiden,

Jan, gute Idee! Der Faden wird mir gefallen!

Ich hatte heute keine Zeit, mir das Buch zu besorgen. So habe ich in der Tat mein erstes eBook gekauft und es angelesen. Das nur zur Erklärung, wenn wir uns vielleicht mal auf bestimmte Textstellen beziehen. Ich weiß nicht, ob die eBooks und Papierfassung da im Aufbau gleich sind, ich werde dann ggf auf die Kapitel Bezug nehmen.

Ich habe jetzt die ersten beiden Kapitel gelesen.
Inhaltlich habe ich da schon eine Vermutung, die sich auch mit dem "Waschzettel" deckt.

Eines fällt mir allerdings auf. Svens Schilderungen sind nach meinem Empfinden sehr weiblich. Ich hatte anfangs den Eindruck, dass eine Frau aus der Ich-Pespektive erzählt und war überrascht, als sich herausstellte, dass ein Mann erzählte.

Der Stil und die Suchtweise von Jolandes Tagebucheinträgen ist ziemlich identisch.

Das wirkt für mich zunächst nicht stimmig.
Wie das zu bewerten ist, vermag ich noch nicht beurteilen. Vielleicht ist es ein gelungenes, ungewöhnliches Stilmittel, vielleicht ist die Ich-Perspektive aber auch nicht gekonnt umgesetzt.

Ich bin gespannt auf mehr!

LG Gika Smile

Ein wirklich erwachsener Mensch hat Kindlichkeit nicht abgelegt, sondern sie auf einer höheren Ebene wiedererlangt (David Steindl-Rast)

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo,

"Nullzeit" habe ich noch nicht, daher lese ich Gikas Beitrag noch nicht, will das Buch möglichst unbeeinflusst angehen. Wollte eh fragen, wie wir das gestalten wollen, z.B. ob jeder schreibt, wann ihr / ihm danach zumute ist oder erst, wenn alle das Buch gelesen haben.

donquichote

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Hallo Gika,

ich habe das Buch ja schon vor einiger Zeit gelesen und es nicht mehr so ganz parat. Aber trotzdem überrascht mich Deine Bemerkung mit der weiblichen Sichtweise von Sven. Diesen Eindruck hatte ich tatsächlich nicht. Kannst Du das an einzelnen Stellen festmachen oder war es doch nur so ein Gesamteindruck? Ich habe Sven vor allem als einen in Erinnerung, der sich verweigert. Es gibt eine Sache, die zieht er durch, seine Tauchschule und sein Leben fern von Deutschland, aber alles andere ist ihm egal. Er nimmt die Liebe seiner Freundin hin, weil sie eben da ist, aber an sich wäre es ihm auch egal, wenn sie nicht da wäre. Das sind ja nun keine traditionellen weiblichen Merkmale. Klar, er ist kein Macho, aber mir kam er eben so wie der sanfte, etwas verpeilte Aussteiger vor. Aber nicht wie eine Frau. Vielleicht kannst Du das noch etwas genauer erklären. Ich werde mir das Buch aber auch noch einmal vornehmen und dann sicher darauf achten.

Die Frage, die damit verbunden ist, ist natürlich die Problematik des Schriftstellers. Wie gestalte ich als Autor oder Autorin die Sichtweise des anderen Geschlechts? Das ist sicher nicht so ganz einfach, möchte man nicht in Klischees verfallen.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers Marion13
Verbunden: 21. Januar 2011 - 10:25

Hallo,

ich wollte nur sagen, dass ich ihn auch toll finde, den Lesefaden! Im Moment finde ich nur Optik spannend und bin damit voll ausgelastet, so dass ich mich an der Lektüre nicht beteiligen werde, aber ich werde die Diskussion verfolgen und mich irgendwann zukünftig sicherlich auch mal ein Buch mitlesen.

LG
Marion

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo,

habe das Buch durch (und nun auch Eure Kommentare hier gelesen) und warte aber gerne noch, bis Gika das Buch zu Ende gelesen hat.

donquichote

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Hallo Don,

dann fang doch mit der Dikussion an. Wie hat Dir das Buch gefallen? Was war weniger gut? Usw.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers Gika
Verbunden: 26. März 2004 - 0:00

Hallo zusammen,

ich bin zwar noch nicht ganz durch, aber die wir können gerne schon in die Diskussion einsteigen.

Jan, mein erster Eindruck, dass Sven eine Frau ist, ist sicher eher ein Gefühl gewesen, das sich aus vielen Kleinigkeiten entwickelt hat. Mir kamen die Schilderung der Eindrücke etc sehr weiblich vor, ich war wirklich überrascht, als ich feststellte, dass der Erzähler Sven, also ein Mann, ist.

Es Waren eher so Kleinigkeiten, die sich summierten. Die Sprache, worauf der Erzähler ( und "der Erzähler" verwende ich jetzt geschlechtsneutral) achtet etc.

Wenn ich jetzt einzelne Beispiele nenne, wird das natürlich sehr schnell ins Klischeehafte abgleiten, was sicher Blödsinn ist und es auch nicht trifft. Ich versuche es trotzdem, bitte aber zu bedenken, dass mein Eindruck aus vielen kleinen Komponenten entstand und dass es eben ein erster Eindruck war.

Da ist die Bemerkung, dass sich der Erzähler nicht für Politik interessiert. Das ist sicher für sich kein Kriterium und kann sowohl auf Männer als auch auf Frauen zutreffen. Männer haben aber eher der Hang, auch dies politisch zu begründen...

Da ist die Schilderung, dass Laura dem Erzähler Englisch vergeblich beibringen will, das schlechte Englisch aber Bernie egal war. Das wirkt so, als ob v.a. die Einschätzung Bernies wichtig ist und ich hatte vermutet, dass der Erzähler Bernies Partnerin ist.

Auch kam es mir weiblich vor, aus welchen Indizien der Erzähler Vorstellungen über die Gäste entwickelte.

Und ohne dies jetzt konkret festmachen zu können, kam mir die Sprache des Ich-Erzählers, die Beobachtungen etc. einfach weiblich vor.
Ich war einfach überrascht, als Theodor fragte "Sind Sie Herr Fiedler?", und ich dadurch erst realisierte, dass es sich um einen Mann handelte.

Ich denke aber, dass dies für den Roman unwesentlich ist. Auch wenn ich im weiteren Verlauf, Svens Perspektive eher aus weiblicher Sicht geschildert finde.

Ich versuche, das Buch in den nächsten Tagen zusende zu lesen. Das Buch liest sich ja eigentlich gut und schnell, ich war nur die letzte Zeit zu beschäftigt.

LG Gika Smile

Ein wirklich erwachsener Mensch hat Kindlichkeit nicht abgelegt, sondern sie auf einer höheren Ebene wiedererlangt (David Steindl-Rast)

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo,

dann steige ich jetzt auch mal in die Diskussion ein.

Ja, das Buch liest sich wirklich gut und schnell. Was den Ich-Erzähler angeht, so hatte ich auf den ersten beiden Seiten mir kein Bild gemacht, ob es ein Mann oder eine Frau sein könnte, auf der dritten Seite löst sich das ja schon durch "Sind Sie Herr Fiedler?" auf. Mich hatte dagegen interessiert, auf welcher Insel "wir" uns befinden und warum ("Krise", "Wirtschaftpolizei" und die Sache mit dem Verstecken von Namesschildern).

Dass Stil und Sichtweise von Svens Erzählung und von Jolas Tagebucheinträgen recht identisch sind, ist mir nicht aufgefallen, ich hatte mich hier wohl sehr von den Widersprüchen zwischen Erzählung und Tagebucheinträgen ablenken lassen. Diese Widersprüche steigern sich. Vielleicht entsteht dadurch Dein Eindruck der Identität zwischen Erzählung und Tagebucheinträgen, Gika? Denn irgendwann ist das regelrecht schwarz-weiss zwischen Erzählung und Tagebucheinträgen. Vielleicht kommt der Eindruck dadurch zustande. Wobei Du, Gika, da nicht unrecht hast. Da wäre z.B. der Tagebucheintrag vom 12. November (Kaktusfeigen-Sorbet) und die Schilderung des Abends bzw. des Abendessens auf der Dorset.

Diese Widersprüche sorgen für Spannung, zumindest war das bei mir so, denn mir stellte sich die Frage, ob Jola total böse und verlogen oder einfach nur total dumm und verpeilt ist.

donquichote

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo,

es gibt einen Satz, über den ich gestolpert bin: Am Ende des ersten Abends, das gemeinsame Essen, ganz am Schluss: "Manchmal könnte ich sie umbringen." Gilt das nun Antje? Weil Antje Theo fragte, warum er nichts mehr schreibe? Oder ist das Sven's Gedanke im Nachhinein, als er die Erzählung schreibt?

donquichote

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Hallo Gika, Don,

ich bin jetzt auch wieder an dem Buch dran und kann mitreden.

Ich kann das mit der weiblichen Perspektive aber immer noch nicht nachvollziehen, denn es sind ja tatsächlich nur 1,5 Seiten. Ich hatte von Anfang an einen Mann im Kopf, war also nicht überrascht, als das Herr Fiedler kam. Ich weiß auch echt nicht so genau, worauf sich die weibliche Schreibweise begründen sollte. Zudem finde ich doch stilistisch einen Unterschied zwischen Svens Ich-Erzählung und dem Tagebuch von Jola. Nun ist diese Problematik, die Du ansprichst, schon sehr komplex. Ein Autor hat ein Geschlecht und kann als Mann oder Frau schlecht in das andere Geschlecht schlüpfen. Also ist das, was er dem anderen Geschlecht zuschreibt, höchstens angedacht oder ausgedacht, aber tatsächlich keine eigene männliche oder weibliche Perspektive. Und dann ist es natürlich auch problematisch, genau zu bestimmen, was eine männliche oder weibliche Perspektive ist. Klar, da gibt es diese Klischees, die Frauen interessieren sich nur für Küche und Kinder und die Männer für Fußball. Aber jenseits vom Klischee, und das erwarte ich ja doch von guter Literatur, sieht es schon komplexer aus.

Der Satz, den Don anspricht, gilt sicher Antje. Die Beziehung von Sven und Antje ist ja schon komisch. Er akzeptiert sie als seine Beziehung, er hat sie aber nicht gewählt. So wirklich mag er sie nicht. Und er ist von ihr ziemlich genervt.

Mir gefällt die Beschreibung von Lanzarote, da sie wenig spektakulär ist und damit die Insel gut trifft. Wobei ich schon finde, dass die Insel sogar noch einiges mehr zu bieten hat als Sven das darstellt, es gibt ja ein recht gut entwickeltes Kulturleben und auch zumindest einen künstlerischen Ansatz bei der Gestaltung. Also für eine Touristeninsel ist sie wirklich besonders.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Liebe Leute,

ich habe wieder weitergelesen. Also mir fällt auf, dass Sven ein Programm vorgibt, das m.E. nicht funktioniert. Er hat eine Beurteilungs-Macke, hasst Beurteilungen und behauptet von sich, den Personen ohne Vorurteile zu begegnen und sie so zu nehmen, wie sie sind. M. E. geht das nicht, und wenn man noch so tolerant ist. Um seine eigene Identität zu sichern, muss man sich von anderen abgrenzen. Das muss ja nicht negativ sein, man muss ja nur den Unterschied definieren. Und er beurteilt ja auch. Wenn man nicht mehr urteilt, sind einem alle Personen egal, was ja auch kein Idealzustand wäre. Da Juli Zeh Juristin ist, nehme ich an, dass das Thema aus dieser Ecke kommt. Es stimmt ja durchaus, dass man oft und oft ungerechtfertigerweise über Menschen urteilt. Sie in eine Ecke stellt und sich gar nicht mehr die Mühe macht, genau die Persönlichkeit zu ergründen. Ich glaube aber ehrlich gesagt nicht, dass das eine deutsche Besonderheit ist. Das machen Menschen auf der ganzen Welt. Und Sven flieht vor dem Urteilen ja auch nicht wirklich nur auf die Insel, sondern in die Tiefe des Meers. Denn natürlich sind Menschen auf Lanzarote aus dem selben Stoff, auch da wird beurteilt, egal ob bei Einheimischen oder Aussteigern. Sven macht sich also etwas vor, lebt ein Lebenskonzept, das nicht funktioniert und steht letztlich völlig allein da.

Sven ist also ein Loner, und da passt die Beziehung zu Antje ja gut rein, die er übrigens permanent beurteilt. Auch hier funktioniert das Konzept nicht. Er hat die Beziehung zu Antje angenommen, er lässt sich von ihr bedienen, aber er verachtet sie. Auch da flieht er. Er flieht vor den Beurteilungen, er flieht vor der Beziehung. Das funktioniert aber nicht, irgendwannmal muss man Position bekennen, muss sich entscheiden, muss aktiv werden. Das Fliehen und Verweigern führt ja letztendlich zu Svens fataler Position am Ende.

Ich will aber jetzt noch den Schluss lesen, ich erinnere mich nur noch vage.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo,

die Insel ist schon sehr gut getroffen, ohne dass sie ausführlich beschrieben wurde, denn das mit dem Kulturleben dürften nicht viele Touristen wissen. Die meisten gehen dort doch hin, um einmal oder zum wiederholten mal zum Baden oder Surfen o.ä. auf einer der Inseln des ewigen Frühlings gewesen zu sein. Oder? Und der eine wird die Kargheit dieser Insel(n) mögen, der andere nicht. Von daher passt das schon, dass Theo im Gegensatz zu Jola von dieser Insel fasziniert ist. Wobei Jola vielleicht auch nur aus anderen Gründen heraus jeweils der gegenteiligen Meinung von Theo ist.

Das Buch war spannend und schnell gelesen, obwohl die Handlung einfach recht banal ist: Ein Paar bucht einen Tauchurlaub mit dem Ziel eines Tauchscheins. Der Tauchlehrer gibt zuerst eines seiner Prinzipien auf, nämlich kein (Liebes-)verhältnis zu seinen Kundinnen und am Schluss seinen Traum vom Aussteigerleben mit Tauchschule auf einer Insel. Oder gibt er seine Flucht vor dem Leben in Deutschland auf? Und ganz am Ende erfährt man, dass das Paar, welches während ihres Tauchurlaubes ständig ihren teilweise recht gefährlichen, ja lebensgefährlichen Streitigkeiten nachging, später geheiratet hat. Man fragt sich, warum. Auch warum Sven das alles aufgab, nur wegen der Liebe zu einer Kundin, die, so finde ich, nicht ganz dicht ist. Diese ständigen Anschläge auf ihren Partner, z.B. das Abstellen der Atemluft unter Wasser und am Schluss sogar ein Tötungsversuch, das ist doch nicht normal. Aber, so ging es zumindest mir, man liest total gespannt, man fragt sich, wie das weiter geht, was Jola noch so alles einfällt. Auch, wie das mit Sven weitergeht, ob er es schafft, sich doch noch Abstand zu Jola und Theo zu finden, oder ob er sich komplett reinziehen lässt in dieses irrsinnige Verhältnis.

Also eigentlich wird man beim Lesen dieses Buches zu einem Schaulustigen!

Wenn der Satz "Manchmal könnte ich sie umbringen." Antje gilt, dann ist die Beziehung zwischen Sven und Antje schon sehr übel. Oder ist es nur eine nur zu voreilige Ankündigung der Autorin zur weiteren Entwicklung der Geschichte? Letztendlich ist es ja Jola, welche versucht Theo umzubringen.

Es ist spannend, aber auch irgendwie frustrierend. Gerne hätte ich Sven das Fortbestehen seiner Tauchschule gegönnt und Antje doch etwas mehr Liebe und Stellenwert in ihrer Beziehung. (Aber dann hätte das ja keinen interessanten Lesestoff ergeben, oder?) Auf gewisse Weise zumindest frustrierend das Ende des Buches. Tauchschule ade, Antje bei Ricardo und schwanger (wenigstens etwas, auch wenn sie wohl weiterhin Sven liebt) und die Hochzeit von Theo und Jola, einem Paar, das eigentlich in keinster Weise verständlich ist. Werden die beiden auch weiterhin versuchen, sich mit allen Mitteln gegenseitig kaputt zu machen? Sind die beiden irgendwie "besonders" drauf? Sado-Maso? Und Sven nur ein zufälliges Opfer am Wegesrand der beiden?

donquichote

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Hallo Don,

hast Du den Schluss auch gelesen? Mich wundert es, dass Du ihn mit keinem Wort erwähnst. Ich gebe Dir Recht, das Buch liest sich schnell und wirkt banal, man denkt, verquere Liebesgeschicht, Typ, der sich nicht binden kann, will, problematische Beziehung zwischen den beiden Neurotikern Jola und Theo. Aber der Schluss macht aus dem Buch, das man so langsam vor sich hinliest, ganz plötzlich einen genialen Krimi. Ohne den Schluss wäre das Buch nichts Besonderes.

Ein wirklich teuflischer Plan, von Jola. Warum? Es werden ja jeweils zwei Perspektiven der gleichen Ereignisse geliefert, die zum Teil ja völlig gegenteilig geschildert werden. Man glaubt Sven, man denkt, dass Jola lügt und ihren teuflischen Plan schmiedet. Nun lese ich das Buch ja gerade zum zweiten Mal und bin noch nicht ganz durch. Aber ich überlege, ob es nicht doch noch andere Möglichkeiten gibt. Was, wenn Sven uns anlügt und Jola sagt die Wahrheit? Oder vielleicht ist das Tagebuch von Jola gar nicht von ihr, sondern von Theo geschrieben? Er ist ja immerhin Schriftsteller. Diese beiden Varianten muss man allerdings gedanklich noch durchspielen, vielleicht passt es auch gar nicht.

Dazu aber auch noch andere Themen, z.B. die Variationen der Liebe. Auch hier sind zwei sehr oppositionelle Varianten vertreten, Antje und Sven, sie will ihn, ist ergeben-unterwürfig, er akzeptiert gerade so. Daneben dann Theo und Jola mit Leidenschaft, aber auch mit Extremen, Verachtung, Gewalt usw. Wobei ich mich ja schon frage, ob das, was Sven mit Antje macht, nicht auch etwas mit Macht und Gewalt zu tun hat, auch wenn er sie nicht schlägt.

Ich denke, der Satz mit dem Umbringen ist bewusst ins Leere und Unklare gestellt, denn es ist ja eigentlich doch die Frage, wer will hier wen umbringen.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo Jan,

ich denke schon, dass das Tagebuch von Jola und nicht von Theo geschrieben wurde. "Ich wusste sofort, worum es sich handelte. Die Datierung. Die Handschrift."
Ja, ich habe das Ende gelesen und man kann hier von einem Krimi ausgehen. Doch das ganze Buch zuvor ist einfach eine spannende Entwicklung zwischen mehreren Menschen innerhalb kurzer Zeit. Dass das Ende einen Krimi daraus macht (oder machen könnte), war für mich irgendwie gar nicht mehr so wichtig. Mich hatten mehr die einzelnen Figuren beschäftigt. Da sind z.B. zwei Paare, das eine dürfte nach aussen hin doch recht harmonisch und gefestigt wirken, er der Tauchlehrer und sie seine Freundin und Hilfe bei allen Belangen der Tauchschule. Und das andere Paar so irre, immer wieder "üble Scherze" oder gar Tötungsversuche bzw. solche Dinge wie am Schluss, als Theo bekannt gibt, dass Jola ihre Wunschrolle nicht erhalten wird. Natürlich vor anderen Partygästen. Voll auskostend! Da fragt man sich, warum die überhaupt noch zusammen sind. Ja, am Schluss fand ich das schon genial, als es Richtung Krimi ging, doch war das Buch für mich auf andere Weise spannend. Zu erfahren, wie weit Jola noch gehen wird. Zur Spannung beigetragen haben natürlich ganz besonders die Tagebucheinträge, die ja das krasse Gegenteil dessen sind, was Sven erzählt. Du hast Recht, Jan, vielleicht hat auch Sven gelogen? Das habe ich tatsächlich noch nicht in Betracht gezogen. Und so ganz am Rand die Insulaner bzw. weitere "Aussteiger", die sich mehr und mehr von Sven abwenden. "Aussteiger", die vielleicht nie ganz wirklich in's Leben der Insulaner integriert wurden. Siehe die Taxifahrer, vor denen man die Fahrdienste für Touristen geheim halten muss oder der Einheimische, welcher schimpft, wenn Sven wieder mal bei ihm parkt (macht man aber auch nicht Biggrin ).

Und ich lies mich halt ganz am Schluss des Buches davon (vom Krimi) ablenken, dass Sven seine Tauchschule aufgibt, Antje (wohl eher nicht gern) mit Ricardo zusammen ist. Und dass Theo und Jola geheiratet haben. Warum heirateten die beiden? Werden sie so weiter machen wie bisher? Und vielleicht noch weitere Menschen kaputt machen und dann "liegen lassen"?

donquichote

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Hallo Don,

ja, die Aussteiger werden schon kritisch dargestellt. Das ist auch diese Seite von Sven, er will mit den Deutschen nichts mehr zu tun haben, aber auch mit sonst keinem. Denn er lebt nun 14 Jahre in Spanien und kann kaum Spanisch. Das ist schon eine ziemliche Leistung der Verweigerung. Und Englisch kann er auch nicht gut. Er hat keine Freunde und er ist eigentlich vor sich selbst davongelaufen. Dass das auf Dauer nicht gut geht, ist klar.

Am Ende rät ihm doch die Juristin, einen Bericht zu schreiben, damit - falls Jola und Theo ihn doch noch anzeigen - er etwas in der Hand hat. Dieser Bericht ist das Buch und es geht ja gerade darum, den Versionen von Jola aus dem Tagebuch seine Version gegenüberzustellen. Doch wer sagt die Wahrheit? Wo liegt die Wahrheit? Es gibt keine objektiven Zeugen, jeder hat das Geschehen auf seine Weise erlebt und erinnert es auf seine Weise. So ist gut denkbar, dass Sven lügt, dass er Theo umbringen wollte, es misslungen ist und er sich im nachhinein als Retter darstellt. Mir kamen, allerdings erst bei der zweiten Lektüre, Zweifel an Svens Bericht, als er die erste sexuelle Begegnung mit Jola schildert, wo es angeblich dann doch nicht passiert, weil er nicht mehr will. Das klingt nicht wirklich so ganz plausibel Biggrin

Wir wollen Sven als den guten Helden, als das Opfer, weil er sympathischer erscheint als Jola, die durchgeknallte Schauspielerin. Sven ist immerhin selbstkritisch und ehrlich. Aber das Buch ist umgekehrt denkbar, Sven lügt und Jolas Tagebuch ist korrekt. Die Juristin am Ende sagt doch auch, einer von Euch beiden lügt ganz genial.

Stellen wir uns nun vor, Theo hat das Tagebuch geschrieben. Das geht, er ist Schriftsteller, er kennt Jola, Handschriften kann man faken. Aber warum? Um Selbstmord zu machen und Sven den Mord in die Schuhe zu schieben? Dagegen spricht die Kopfwunde und die Tatsache, dass er ja bei seiner Rettung mitmacht. Der Selbstmord Theos ist ja die Version von Jola, die aber nicht plausibel klingt. Sehr wahrscheinlich ist diese Version nicht.

Wenn wir davon ausgehen, dass Jola lügt, dann kann übrigens auch die ganze Gewalttätigkeit, die sie von Theo berichtet, gelogen sein. Sven berichtet von keinen blauen Flecken, die er an ihr sieht. Die beiden benehmen sich komisch, das mit dem abgedrehten Sauerstoff, das Balancieren auf der Mauer. Wobei ich da zum Teil schon auch dachte, dass Sven das vielleicht etwas übertreibt. Also wenn Sven der Lügner ist, dann ist das alles von ihm ausgedacht und Theo und Jola sind ein leicht exzentrisches, aber weitgehend normales Paar. Das würde dann die Heirat erklären.

Dass Jola Theo versucht umzubringen, um ihn danach zu heiraten, klingt schon komisch. Resignation? Hat er etwas in der Hand, um sie zu erpressen? Unklar bleibt auch, warum die Polizei nie etwas unternimmt. Warum zeigt Jola Sven nicht an? Warum zeigt Theo ihn nicht an? Jolas Version ist die des Selbstmords, Theo äußert keine Version. Wenn man das bedenkt, dann kommt man doch mehr zu dem Entschluss, dass Sven lügt. Zumindest zum Teil lügt. So kann es z.B. durchaus sein, dass Theo die Gemeinheiten bzgl. des Verlusts der Rolle von Jola gar nicht erzählt hat usw.

Diese Doppelbödigkeit macht das Buch noch besser, sie hat sich mir aber tatsächlich erst beim zweiten Lesen erschlossen.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Liebe Leute,

wir haben uns nun ein neues Buch vorgenommen, "Löwen wecken" von Ayelet Gundar-Goshen. Ich bin gerade dabei, es zu lesen, würde aber schon ganz gern einen Kommentar abgeben. Kann dann natürlich sein, dass ich nach weiterer Lektüre des Buchs das wieder anders sehe.

Ich habe jetzt ungefähr ein Drittel des Buchs gelesen. Es geht um einen Arzt, der eine ziemlich unverständliche Tat begeht: Er überfährt in übermüdetem und emotional aufgekratztem Zustand einen Mann und lässt ihn sterbend am Straßenrand liegen. Seine Überlegungen sind durchaus rational nachvollziehbar: Der Mann stirbt sowieso und er müsste mit ziemlich unangenehmen Folgen rechnen, Strafe, evtl. Verlust der Arbeitsstelle usw.

Mit diesem Ereignis beginnt der Roman und man ist sofort mittendrin. Der Konflikt ist nachvollziehbar, man überlegt automatisch, wie man selbst handeln würde. Könnte man einfach weiterfahren? Einfach ist das nicht, denn auch dem Protagonisten des Romans geht es dabei nicht gut. Ihn plagt das schlechte Gewissen, er kann kaum schlafen, mit niemandem darüber sprechen usw. Die Frage ist natürlich, ob es ihm ohne die Fahrerflucht so viel besser gehen würde, immerhin hat er aus Nichtachtsamkeit einen Menschen getötet. Das sollte ja sowieso zusetzen.

Doch bei Etan kommt es noch dicker. Bereits am nächsten Tag taucht die Frau des Getöteten bei ihm auf. Der Tote war illegaler Einwanderer und hielt sich somit unrechtmäßig in Israel auf. Die Frau gibt Etan seine Geldbörse, die er wohl am Unfallort verloren hat. Und sie erpresst ihn: Er muss sofort unentgeltlich für illegale Einwanderer als Arzt arbeiten, sonst verpfeift sie ihn. Und er macht das. Kümmert sich nicht mehr wirklich um seinen eigentlichen Job im Krankenhaus, lügt seine Familie an und versorgt fast täglich in einer alten Garage die Leute, die aus Geld- und Statusmangel in kein Krankenhaus gehen können, wenn sie krank sind. Damit macht sich Etan vor dem Gesetz nun noch einmal schuldig, denn er müsste die Illegalen wohl melden. Er macht das nicht gern, ist wütend und verwirrt, fügt sich aber der Erpressung. Pikant ist noch, dass seine Frau Polizistin ist und auch an dem Fall der Fahrerflucht arbeitet.

Damit habe ich nun zwar den Plot verraten, aber eigentlich habe ich damit noch nicht viel des Buchs verraten, denn all das passiert bereits auf den ersten Seiten des Buchs, in ziemlich schneller Folge. Und das ist m.E. das Merkwürdige an dem Roman. Wenn die eigentliche Geschichte schon auf den ersten Seiten erzählt wird, was kommt dann auf den restlichen immerhin noch ca. 300 Seiten? Man hat den Eindruck, die Autorin verschießt ihr Pulver vor der Zeit. Das kann sich aber auch noch als Irrtum herausstellen, da ich ja nicht weiß, was noch kommt. Auf jeden Fall habe ich aber den Eindruck, der Plot ist nur ein Vorwand für etwas anderes. Es geht hier nicht nur um eine moralisch komplizierte und fragwürdige Handlung, die das Leben eines Menschen auf den Kopf stellt. Es geht um mehr. Etans Leben und das seiner Familie wird sehr ausführlich erzählt. Er ist offensichtlich kein angepasster Karrierist, der für seine Karriere als Arzt alles tun würde. Als er in Tel Aviv am Krankenhaus arbeitete, kam ihm ein Korruptionsskandal um Organhandel zu Ohren, in den auch sein Mentor verwickelt war. Er hat nicht mitgespielt und wurde dann als Folge dieses Skandals in ein unbedeutendes Wüstenkaff versetzt. In diesem Fall hat Etan äußerst moralisch gehandelt, zum Nachteil seiner persönlichen Interessen. Dieses Verhalten und diese Charakterisierung stehen im Widerspruch zur Fahrerflucht.

Man kann das beides natürlich auch verbinden und hier die Erklärung suchen. Etan hat aus der Vergangenheit gelernt und möchte nun nicht wieder einen persönlichen Nachteil erfahren. Er versucht jetzt so zu handeln, wie er davor hätte handeln sollen: illegal, dafür vernünftig und pragmatisch, um seine eigene Karriere nicht zu gefährden.

Neben Etan geht es vor allem um seine Familie. So finden sich Passagen aus der Perspektive seiner Frau, einer irakischen Jüdin, die als Polizistin arbeitet. Dann gibt es die beiden Söhne, ein nach außen hin intaktes Familienleben, wenngleich an einem Ort, an dem sie nicht so gern wohnen möchten. Gleichzeitig erfahren wir aber auch Szenen aus der Perspektive von Sikrit, der Frau des ermordeten Eritreers. Sie ist ebenfalls illegal in Israel, zusammen mit einer ganzen Gruppe, die in einem alten Caravan lebt und illegal diversen Jobs nachgeht.

Das Buch liest sich ein bißchen sperrig, es schildert ein bißchen umständlich sehr viel, von dem man sich fragt, ob es für die Geschichte wirklich notwendig ist. Es ist aber durchaus auch verhalten spannend, denn man fragt sich natürlich, wie Etan den Kopf aus dieser Schlinge bekommt und wie er mit der doppelten Arbeitsbelastung und der psychischen Belastung durch seine Tat fertig wird. Und man fragt sich eben, wie gesagt, was auf all den Seiten noch passieren wird. Ich lese jetzt in jedem Fall weiter.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo,

Jan, Du hast den (bisherigen) Inhalt des Buchs sehr gut wiedergegeben. Ich bin gerade an das Ende des ersten Teiles gekommen (damit ich jetzt nicht zuviel verrate).

Ich sehe es genauso: Er hat dieses mal (bei der Fahrerflucht) wohl an seine Karriere gedacht, was er bei der Sache mit dem Organhandel nicht tat. Aber war das alles? Oder ist es vielleicht nicht auch noch der Umstand, dass es sich beim dem Unfallopfer um einen dunkelhäutigen Menschen geht, der sich noch dazu illegal im Land aufhält (wobei Etan das im Moment des Unfalls ja nicht wissen kann, ob das Unfallopfer nicht doch legal im Land ist). Aber da unterstelle ich Etan nun doch sehr viel. Dennoch:

Etan scheint die Sauberkeit sehr zu lieben, das Helle. Wie denkt er über die Illegalen? Über Menschen aus armen Ländern? Und wie mir bisher scheint, geht es hier nicht nur um Flüchtlinge, die aus welchen Gründen auch immer, ihr Land verlassen haben und sich nun illegal in einem anderen Land aufhalten. Irgendwie ist doch auch Liat, die Frau von Etan, ein Flüchtling. Sie kam in ihrer Kindheit durch ein Programm an eine Schule, in welche sie normalerweise (ihrer Herkunft gemäss) wahrscheinlich nicht gegangen wäre. Sie schämte sich ihrer entstehenden Weiblichkeit (das äussere, das Wachsen der Brüste), ihrer Behaarung. Auch sie scheint Sauberkeit zu lieben. Und Gerechtigkeit. Sicher auch Genauigkeit, sie scheint gut zu beobachten (und hängt beim Nachhausekommen ihre Augen auf wie andere ihren Hut oder ihre Jacke). Und Etan überlegt (mehr oder weniger nur in einem Satz), ob er in ein anderes Land auswandern soll, wohl um seiner Situation zu entkommen.

In der Tat sieht es momentan so aus, als habe die Autorin schon auf den ersten 100 oder 200 Seiten ihr Pulver verschossen, wobei das nun doch noch mal spannend werden könnte. Z.B. wie Etan den doch immer grösser werdenden Spagat zwischen seinem normalen Leben und seinen heimlichen Tätigkeiten als Arzt für Illegale schaffen wird. Oder ob Liat, seine Frau, als Polizistin oder aber auch einfach nur als seine Ehefrau dahinterkommen wird, dass er diese Unfallflucht begangen hat.

Natürlich stellt sich die Frage, wie hätte man selber in einer solchen Situation reagiert, doch mir stellt sich momentan eher die Frage, wer in diesem Buch ist der eigentliche Flüchtling, der eigentlich Illegale.

Das Buch liest sich wirklich etwas sperrig, aber mal sehen, wozu man in weiteren Teilen des Geschehens, manche Dinge doch wissen "muss".

Was mich derzeit etwas an dieser Sache stört ist, dass es fast etwas übertrieben ist. Nicht nur die vielen Flüchtlinge mit ihren teilweise schweren und üblen Krankheiten und Verletzungen, die alle ihren Weg in die alte Garage finden, sondern auch die viele Zeit, die Etan dort verbringt. Das ist doch fast nicht möglich, eine derartige Doppelbelastung über längere Zeit aufrecht erhalten zu können, noch dazu in Heimlichkeit, ohne dass es Arbeitskollegen und Familie merken. Auch die mal eben "schnell" gemachten Diebstähle von Medikamenten aus dem Krankenhaus, den Transport von OP-Geräten, eine OP in einer alten Garage, ein Anästhesist, der da mitmacht, weil er Angst hat, er wird wegen Drogenkonsums o.ä. verpetzt. In meinen Augen fast etwas übertrieben.

Und was mich noch stört: Bis jetzt weiss ich nicht so recht, ob die Frau des Unfallopfers ihren Mann überhaupt gemocht hat. Oder war das eher eine "Zwangsgemeinschaft"? Irgendwie scheint das nicht die grosse Liebe gewesen zu sein. Und wie schnell die Frau auf die Idee kommt, den gewaltsamen Unfalltod ihres Mannes für ihre Landsleute und Leidensgenossen auszunutzen.

donquichote

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Hallo Don,

also über die Beziehung von Sikrit zu ihrem Mann möchte ich nicht allzu viel verraten, denn das erschließt sich im Laufe des Buchs noch genau. Darauf bezieht sich m.E. auch der Titel, "Löwen wecken".

Ich habe das Buch inzwischen fertig gelesen und versuche, nicht zu viel zu verraten. Aber ich sehe da jetzt einiges doch anders. Also ich finde eigentlich nicht mehr, dass sie vorzeitig ihr Pulver verschießt, denn der Plot, also die doch recht spannende Handlung, ist meiner Meinung nach nur der Aufhänger des Buchs. Das ist spannend, das macht Spaß zu lesen, das ist zum Teil auch absurd und witzig. Aber im Grunde genommen denke ich, dass es eigentlich um zwei Dinge geht. Zum einen um das menschliche Miteinander, Beziehungen, Mann und Frau, aber nicht nur. Es geht um Schuld, es geht um gut und böse und vor allem darum, dass die meisten Menschen nicht nur gut oder böse sind, sondern eigentlich beides. Etan ist integer, handelt immer moralisch korrekt, hat einen sozialen Beruf und hilft Menschen, und trotzdem lässt er einen Mann, den er anfährt und der durch seine Schuld stirbt, einfach am Wegrand liegen.

Hierzu meine ich allerdings, dass es eigentlich nicht funktioniert, wenn man überlegt, was man selbst in so einer Situation machen würde. Denn hier ist es ja entscheidend, dass Etan Arzt ist, noch dazu Gehirnspezialist. Er kann mit Sicherheit sagen, dass der Mann nicht überleben wird. Eine Person, die nicht Arzt ist, kann das nicht wissen, also wäre die moralische Verfehlung wesentlich größer. Wenn man es nicht wirklich weiß, bestünde ja in jedem Fall noch die Möglichkeit, den Verletzten eventuell retten zu können.

Das zweite Thema, das der Roman bedient, ist wesentlich komplexer. Es geht um die multiethnische Gesellschaft in Israel mit der führenden "weißen" Klasse. Etan ist der typische Vertreter der wohlhabenden Mittelschicht, mit Frau, zwei Kindern, Haus, Auto und gutem Job. Es spricht für ihn, dass er Liat geheiratet hat, eine dunklere Israelin irakischer Abstammung, aus ärmlichen Verhältnissen. Dann gibt es die Araber, die im Roman fast ausschließlich Beduinen genannt werden, eindeutig Menschen zweiter Klasse im Staat Israel. Sie leben in Clans, frönen der Blutrache, sind gewalttätig und gehen entweder erniedrigenden oder kriminellen Tätigkeiten nach. Ich bin mir hier nicht sicher, ob die Darstellung dieser Menschen im Roman einfach versucht, realistisch zu sein, oder ob hier auch eine leise Kritik mitschwingt. In jedem Fall wird aber in einigen Abschnitten auch die Perspektive eines der jungen Beduinen präsentiert.

Und dann sind da noch die illegalen Eritreer, die das Elend in ihrem Land nach Israel führt. Sie arbeiten schwarz und sind somit Ausbeutung, Gewalt und Vergewaltigung ausgeliefert. Wirklich Gestalt gewinnt hier im Roman aber nur Sikrit, die anderen Figuren erscheinen eher wie Statisten. Sie ist aber sehr interessant gezeichnet, wobei wir das vielleicht später diskutieren sollten, wenn Du zu Ende gelesen hast. Aber es ist klar, dass diese Menschen die letzten in der Kette der Gesellschaft sind, auch in Israel im Elend leben und nicht einmal Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem haben.

Vielleicht noch etwas zu den Übertreibungen. Klar, die Menschen, die in der Garage behandelt werden, sind total viele, sie haben auch alle fürchterlichen Krankheiten, die man sich vorstellen kann, die Situation von Etan ist extrem, man glaubt kaum, dass das ein Menschen aushalten kann. Es geht auch so weiter, es kommen vor allem zum Schluss noch ein paar übertriebene Szenen vor, so dass man fast an einen dieser Actionfilme aus Hollywood erinnert wird. Aber ich denke doch, dass dies vor allem ein Stilmittel ist, um die Spannung zu erhalten. Denn eigentlich geht es um eher allgemeine Dinge, aber ein ausschließliches Fabulieren darüber wäre doch zu langweilig, und daher wird das alles durch eine doch recht spannende Handlung untermalt. Ich glaube schon, dass die Übertreibungen notwendig sind und auch Sinn machen.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo Jan,

habe das Buch fertig gelesen und bin bisschen ratlos: Geht es um die multiethnische Gesellschaft in Israel? Geht es um diese wirklich miese Situation, in der ein Mensch versehentlich einen anderen Menschen getötet hat und wie man sich da am besten verhalten soll? Geht es um die Beziehung zweier Menschen, die sich ohne diesen "Zwischenfall" des versehentlich getöteten Eritreers wahrscheinlich nie begegnet wären? Und letztendlich endet das Buch ja auch so (wie "es sich gehört"): Beide gehen wieder in ihre Welten zurück. Der Arzt in seine doch eher komfortable und saubere Welt und die Frau des Getöteten in ein Auffanglager oder wie immer man das bezeichnen mag. Überhaupt ist diese Frau doch sehr rätselhaft: Sie scheint nicht oder kaum zu trauern, vielleicht weil sie bis dahin ein hartes Leben hatte oder auch weiterhin haben wird. Dennoch war da doch die Zeit, in der sie die Behandlung ihrer Landsleute in der Garage managte und dafür wohl Geld kassierte. Ein kleines bisschen "Wohlstand", mehr Geld als das, was man sonst als Illegaler bekommen kann. Sie kommt mitunter doch recht skrupellos daher, was aber an ihrer bisherigen Lebensgeschichte liegen kann. Da nimmt man sie sich das, was sie bekommen kann. Aber eigenartig auch die Rechenweise des Arztes: Er hat einen Menschen getötet, inzwischen hat auch die Eritreerin einen Menschen getötet - "also ist alles wieder im Lot" - er kann wieder in sein normales Leben zurück. Aber geht das so einfach?

Das Ende der Geschichte ist so unerwartet: Der Plot am Anfang, dann das Aufrechterhalten der Spannung, wenn auch sehr übertrieben (diese vielen Patienten, diese langen Nächte, wie schafft der Arzt es, das alles geheim zu halten etc) und dann dieser plötzlich in der Spannung abfallende Schluss: Beide sind wieder dort, wo sie ihren Platz in der Gesellschaft haben, egal, wie fragwürdig dieser Platz ist.

donquichote

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Hallo Don,

ich finde doch, dass der Roman in erster Linie eine Liebesgeschichte ist. Eine Liebesgeschichte zwischen zwei total unterschiedlichen Menschen aus zwei völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten. Beide begegnen sich mit allen Vorurteilen, die sie in ihren Köpfen haben und beide stellen doch erstaunt fest, dass der andere doch ganz anders ist. Und der "westliche" Mann, der eigentlich ein Erfolgsmensch sein sollte, der Mächtige, ist plötzlich ganz klein und hilflos und einigermaßen verpeilt, und die völlig rechtlose und mehrfach ausgebeutete afrikanische Frau hat plötzlich Macht. Es ist wie ein Experiment, Welt verkehrt und auf den Kopf gestellt. Aber natürlich muss am Ende die Ordnung wieder hergestellt werden und ich glaube, dass der Roman sehr an Glaubwürdigkeit verloren hätte, wenn Etan sich von seiner Frau getrennt hätte und mit Sikrit zusammengezogen wäre. Der Roman zeigt doch, dass die Mächtigen ganz schnell ganz machtlos sein können und dass auch der Geknechtete etwas erreichen kann, wenn er oder sie sich kümmert und ein bißchen Glück hat.

Sikrit war doch eine völlig unterdrückte Frau eines brutalen Machos, der sie geprügelt hat. Durch seinen Tod sieht sie plötzlich eine Möglichkeit, selbständig etwas zu erreichen und sie greift zu. Ich denke, das ist das Löwen wecken des Titels. In ihr schlummert ein Löwe, der geweckt wurde durch die besonderen Umstände. Der Schluss zeigt, dass sie schon wieder einen Plan hat und wahrscheinlich schafft sie es auch, nicht abgeschoben zu werden. Und sie hat Etan nicht verraten.

Auch wenn am Ende die Zustände wieder hergestellt werden, ist doch jeder ein anderer geworden. Bei Sikrit ist es ganz klar, aber auch Etan kann sein Glück jetzt viel besser erkennen. Auch er hat sich verändert. Ich finde die Schilderung der Entwicklung dieser Liebe ziemlich stark und die Liebesszene, bei der man nicht weiß, ob es eine ist (witzig, denn auch in dem letzten Roman, den wir gelesen haben, gibt es eine Sexszene, bei der man nicht weiß, ob sie real ist), ist enorm stark beschrieben. Diese Stellen im Roman fand ich sehr gelungen.

Klar, da ist einiges übertrieben, aber ich denke, es ist auch ein Stilmittel. Genervt hat mich am Ende das Geballere und die Action, das war ein bißchen zu sehr billiger Hollywood-Krimi. Wahrscheinlich hofft die Autorin, dass es mal verfilmt wird.

Die andere Thematik, die bedient wird, ist die Komplexität der israelischen Gesellschaft mit ihrer herrschenden Schicht und den Arabern, Beduinen und eben auch den afrikanischen Flüchtlingen. Da gärt es und es ist nicht einfach. Die Konflikte werden vorsichtig geschildert, vieles nur angedeutet, vieles ist klischeehaft, aber das Klischee enthält eben oft auch viel Wahrheit.

Mir hat die Lektüre viel Vergnügen bereitet, ich fand den Roman auch komisch, trotz all der Tragik und kaum langatmig oder langweilig. Ich fand ihn gelungen, auch wenn einiges übertrieben war oder einige Stellen auch etwas unklar waren. Ich fand auch die Figurenzeichnung gelungen, vor allem die Frau von Etan hat mir gefallen. Hehe, was für eine Polizistin, die den gesuchten Mörder im Bett hat und es nicht kapiert. Auch am Ende einfach nicht kapieren will. Da ist schon auch viel Ironie dabei und Bissigkeit gegenüber gesellschaftlichen Strukturen.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo,

Titos Brille von Adriana Altaras: Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer Familie.

Der Tod ihrer Eltern (ehemals Partisanen in Jugoslawien, später nach Deutschland emigriert, wo sie eine jüdische Gemeinde gründeten) und das Ausräumen der elterlichen Wohnung lässt die Autorin immer wieder in die Geschichte ihrer Familie zurückblicken. Zugleich erzählt sie aber auch Aktuelles, z.B. über die Bar Mizwa ihres älteren Sohnes.

Ich weiss nicht so recht, was ich mit diesem Buch anfangen soll, eigentlich wollte ich es nicht mal zu Ende lesen. Denn einerseits ist es schon interessant, was manche Familien in den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts durchgemacht und erlebt hatten, andererseits hat man i.a.R. auch eine eigene Familiengeschichte und will nicht noch wissen, welche Tante der Autorin die Angewohnheit hat, Telefongespräche mitunter einfach durch Auflegen abrupt zu beenden. Auch finde ich, dass sie, zumindest anfänglich, die Juden doch stark klischeehaft darstellt (neurotisch, in überheizten Räumen hausend (o.ä., habe das Buch nicht zur Hand), was sich sicher auch bei Zugehörigen anderer Religionen findet), was sich allerdings im Laufe des Buches ändert. Sie scheint sich durch ihre Söhne doch mehr und mehr mit der Religion ihrer Familie auseinanderzusetzen und anzufreunden, eine Entwicklung, die fast das einzig Interessante in diesem Buch ist.

Ich will und kann das, was die Familie der Autorin, vor allem ihre Eltern erlebt und geleistet haben keineswegs in Abrede stellen, doch man hätte dieses Buch spannender oder vielleicht aber auch mit mehr Humor schreiben können. So bleibt das einfach nur eine fade, öde Geschichte.

Alles in allem für mich kein lesenswertes Buch - Familiengeschichten dieser Art, noch dazu meiner Meinung nach flach und langweilig geschrieben, gibt es mehr als nur einmal.

donquichote

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Natürlich muss ein Buch mit dem Titel "Titos Brille" in einem Optikerforum besprochen werden Biggrin

Mir ging es bei dem Buch ähnlich wie Don, ich mochte es einfach nicht. Dabei war mir lange nicht richtig klar, warum, aber ich habe es mit ziemlichem Widerwillen zu Ende gelesen. Ich finde das Buch wirklich nicht gut und wundere mich über die große Anzahl von guten, zum Teil fast euphorischen Besprechungen, die das Buch begleiten. Ich kann das nicht nachvollziehen, habe aber den Eindruck, dass sich in Deutschland bei dieser Thematik keiner traut, offen zu sagen, dass ihm das Buch nicht gefällt. Ich versuche jetzt einmal, in ein paar Punkten darzulegen, warum ich das Buch für nicht gelungen halte.

1. Kein klares Thema. Soll es nun um die Vergangenheit und die Erfahrungen der Eltern gehen oder um die Befindlichkeiten der zweiten Generation von jüdischen Einwanderern in Deutschland? Ich schätze eher um zweiteres, aber das ist nicht so ganz klar. Dieser Mangel an Linie und eindeutiger thematischer Festlegung führt zu einer gewissen Verwirrung des Lesers, außerdem dazu, dass beides oberflächlich und nicht adäquat behandelt wird.

2. Achronologisches Erzählen. Die Erzählerin springt bei ihrer Erzählung zeitlich quer durch den Gemüsegarten. Mal trifft sie sich mit ihrem Freund R. in der aktuellen Zeit, dann steht sie am Krankenbett der Mutter, dann erinnert sie den Vater und seine Erfahrungen während der Partisanenzeit. Nun ist es, wenn man anspruchsvolle Literatur schreiben will, mittlerweile ja nahezu verpönt, chronologisch zu berichten, aber was will die Autorin denn noch alles? Sie nimmt sich einfach zu viel vor, packt zu viel in ihr Werk. Ich würde meinen, es geht ihr um das Thema, also hätte sie besser chronologisch erzählt, da wesentlich leserfreundlicher. Ich bin mir sicher, das Buch hätte dadurch gewonnen. Durch diese ewigen Sprünge werden die wichtigen Themen verwässert. Sie kann es auch nicht wirklich, achronologisches Erzählen ist eine Kunst, dann wirkt diese auch beim Leser, Frau Altaras beherrscht diese Kunst eindeutig nicht.

3. Ironiemodus. Das Thema ist ernst, ernster geht es kaum. Es ist auch wichtig. Und es ist kompliziert. Nun wird das Thema um Holocaust und Lager ja zumeist ernst beschrieben, oft ja auch mit kaum erträglichem Pathos. Das kennen wir. Das ist irgendwo ja auch angemessen. Nun wollte die Autorin auch hier ganz schrecklich modern und locker-flockig daherkommen und hat die Ironie als dominanten Diskurs gewählt. Dass das nicht unbedingt funktioniert, zeigt das Buch. Vielleicht könnte es funktionieren, wenn die Ironie gekonnter bedient würde. Es gibt Beispiele dafür, sowohl im Print- wie im Filmbereich. Herrliche Filme, bei denen der Holocaust plötzlich fröhlich daherkommt und es einem das Lachen im Halse steckenbleibt. Bei diesem Buch ist die Ironie fehl am Platz.

4. Bloßes Nacherzählen von Familiengeschichten. Viele Leute möchten Bücher schreiben und wissen nicht, wie sie das anstellen sollen. Also setzt man sich hin, und wenn man eine nicht ganz alltägliche Familie hat, beschreibt man einfach diese Familie, deren Geschichte, vermischt das mit der eigenen Befindlichkeit und fertig ist der Bestseller. Man gewinnt insgesamt den Eindruck, dieses Verfahren ist momentan en vogue und wird zum Teil schon fast manisch praktiziert. Ich sage nur Knausgard. Dass man damit nicht nur die eigene Frau in den Wahnsinn treibt, sondern auch die Leser vergrault, scheint bei vielen noch nicht angekommen. Literatur gilt nach wie vor als Kunst und sollte bearbeitet werden. Anders gesagt: Es genügt nicht, eine außergewöhnliche Familie zu haben, um ein gutes Buch schreiben zu können. Ich finde es auch unseriös: Hat es die Mutter wirklich verdient, so beschrieben zu werden? Der Vater kommt besser weg, was uns einiges über Frau Altaras, die Autorin, verrät, was sie uns aber leider nicht sympathischer macht.

Fazit: Die Autorin wollte mehr als sie kann. Und sie klebte zu sehr an der tatsächlichen Geschichte ihrer Familie, die in der Form nur schwerlich wirklich einen interessiert. Völlig überflüssiger Ballast diese elend langen Belanglosigkeiten, wie auch Don schon anmerkt, ob die Tante nun plötzlich auflegt oder nicht. Es ist der Autorin nicht gelungen, die wirklich interessanten Aspekte ihrer Familie herauszuarbeiten. Die Persönlichkeiten alle merkwürdig flach, die Ereignisse eine Abfolge von Belanglosigkeiten, wo das wirklich Interessante kaum zu entdecken ist. Etwas Bearbeitung und Struktur hätten dem Buch nicht geschadet. Letztendlich spiegelt die Geschichte sehr gut die Patchwork-Karriere der Autorin wider, die wohl schon alles gemacht hat (Regisseurin, Schauspielerin, Autorin), aber es in nichts zur Meisterschaft gebracht hat. So erscheint einem auch dieser diffuse Erzählbrei in diesem Roman.

Dabei geht es um wirklich wichtige Themen: Erfahrungen der Eltern in Lagern, Judenverfolgung, die große Schwierigkeit der sozialistischen Staaten im Umgang mit Juden nach dem Holocaust, die Probleme der zweiten und dritten Generation. Jedes für sich ist das ein wichtiges und ernstes Thema, zu dem es viel zu sagen gibt. Jedes Thema für sich ist hochkomplex. All diese Themen in so einem Buch dermaßen zu verwursten, ist nicht angebracht und auch der Thematik nicht angemessen.

Das neue Buch der Autorin heißt "Doitscha. Eine jüdische Mutter packt aus" (schon der Titel an sich ist schauderhaft). Hier geht es wohl um einen ihrer Söhne und seinen Ausbruch nach Israel. Da ihr erstes Buch ja ein Erfolg war (viel gekauft, in Rezensionen gut besprochen, siehe oben, wahrscheinlich kaum wirklich gelesen), ist davon auszugehen, dass sie auch diese Thematik wieder auf die gleiche Weise bedient. Ich verzichte gern auf eine Lektüre. Und wetten: es wird sich wieder keiner der bekannten deutschen Rezensenten trauen, dieses Buch schlecht (und ehrlich) zu besprechen.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Noch ein Nachtrag zu dem Roman von Altaras, Titos Brille:

Es fällt tatsächlich auf, dass sich unter den Neuerscheinungen an Büchern vermehrt Familiengeschichten finden. Und da wird bis ins letzte Detail alles geschildert, was in der Familie so passiert ist. Knausgard führt das ja bis zum Exzess und Erbrechen vor. Nun frage ich mich wirklich, wo hier die Grenze liegt. Was ist noch zu tolerieren, was nicht mehr? Rein juristisch dürfte das klar sein, jeder kann wohl schreiben, was er will, vor allem, wenn die Personen tot sind, können sie sich ja nicht mehr wehren. Aber ich frage mich dennoch, ob sich Frau Altaras nicht doch schämt, ihre Mutter so darzustellen. Ich liebe meine Eltern, ich liebe meine Familie, und Menschen, die man liebt, sollte man doch eigentlich nicht bloßstellen. Im Gegenteil, man sollte sie vielmehr schützen. Thea Fuhrmann, Altaras Mutter, war eine anerkannte Architektin, aber vor allem eine Person, die enorme Leistungen für das Wiedererstarken der jüdischen Gemeinden in Deutschland nach dem Krieg vollbracht hat. Dafür erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Sie hat unermüdlich für die jüdische Gemeinde in Gießen gearbeitet. Dafür sollte man sie erinnern, für nichts anderes. Und ihre eigene Tochter schafft es, dass man sie elend im Bett liegen sieht, mit amputiertem Bein. Wo bleiben hier Respekt und Scham? Wen geht das etwas an? Ich möchte nicht, dass mich meine Kinder einmal in Romanen und Büchern beschreiben, wenn es mir elend zumute ist.

Was ist hier eigentlich los? Diese Art der realen Zurschaustellung des Elends von Personen, die einem nahe sind, nimmt in der Literatur derzeit enorm zu. Ich finde das erschreckend. Ein Mangel an Respekt und ein Eingriff in die Privatsphäre der Personen, die man angeblich liebt und die einem vertrauen. Ich finde das gruselig. Überspitzt formuliert: für Geld und Ruhm schändet Frau Altaras das Andenken ihrer Eltern. Ein weiterer Grund, dieses Buch abzulehnen.

LG
Jan Smile

Bild des Benutzers Tatüü
Verbunden: 5. November 2015 - 10:58

Ich lese auch sehr gerne und habe mich gerade durch diesen Thread gewuselt. Wirklich intressant, habe einige Anregungen bekommen, weiß aber auch wovon ich besser die Finger lasse.

Bild des Benutzers donquichote
Verbunden: 30. September 2004 - 0:00

Hallo Tatüü,

willkommen! Hättest Du Lust, das nächste Buch vorzuschlagen und dann natürlich mitzulesen?

donquichote

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Hallo Ihr Lieben,

ich weiß, wir haben alle keine Zeit, aber deswegen ist es doch sowieso schon egal. Wollen wir nicht wieder einmal gemeinsam ein Buch lesen? Ich hätte mehrere im Blick:

1. Daniel Kehlmann, F

2. Takis Würger, Der Club

3. Joel Dicker, Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

4. Christoph Hein, Trutz

Wenn Ihr Lust dazu habt, oder auch zu einem anderen Buch, gebt Bescheid.

LG

Jan Smile

 

Bild des Benutzers Gika
Verbunden: 26. März 2004 - 0:00

Hallo Jan,

nette Idee. Mich interessiert schon lange F von Kehlmann. Ich kann allerdings nicht garantieren, ob ich das Buch in angemessener Zeit lesen kann...

LG Gika Smile

Ein wirklich erwachsener Mensch hat Kindlichkeit nicht abgelegt, sondern sie auf einer höheren Ebene wiedererlangt (David Steindl-Rast)

Bild des Benutzers Jan22
Verbunden: 16. September 2006 - 3:11

Hallo Gika,

dann können wir es uns doch mal vornehmen. Ich habe es schon gelesen, würde es aber dann noch einmal lesen, da ich mich nicht mehr so gut erinnere. Don, bist Du auch dabei?

LG

Jan Smile